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Fakten zum Genozid in Prijedor:

  • Mehr als 3100 ermordete in wenigen Wochen 1992
  • Mindestens 94% der Opfer waren Bosniaken (bosnische Muslime), aber auch Kroaten, Albaner, Roma, Ukrainer, ein Tscheche, ein Pakistani und ein antifaschistischer Serbe wurden ermordet.
  • In der Ideologie Großserbiens sind bosnische Muslime keine Menschen, sondern “genetisch entstelltes Material”. Um diese Gene zu säubern, wurden in ganz Bosnien Frauen und Mädchen systematisch und strategisch vergewaltigt, um sie zwangszuschwängern und zu zwingen, Kinder mit “serbischem Blut” zu gebären.
  • Rund 50.000 Frauen und Mädchen wurden vergewaltigt, in einem Land, das weniger Einwohner hat als Berlin. Viele wurden in speziellen Vergewaltigungslagern gefangen gehalten damit sie weder abtreiben noch Suizid begehen können.
  •  Das Morden und die Konzentrationslager gab es schon VOR dem 31. Mai 1992. Die Morde fingen an, bevor auch eine einzige Kugel gegen die Mörder geschossen wurde.
  • Der Bosnienkrieg war ein Angriffskrieg und viele der Völkermörder reisten aus Serbien an. Doch die lokale Bevölkerung ethischer Serben machte beim Morden und Foltern mit, mit leider wenigen Ausnahmen.
  • Die Opfer waren nicht bewaffnet, Zivilisten und vor sllem – sie hatten nicht erwartet, dass ihre Nachbarn und Freunde, die sie bis gestern mit einem Lächeln begrüßten, ihnen solches Grauen antun.
  • Das jüngste Opfer des Genozides in dieser Stadt war das 2 Monate alte Baby Velid Softic. Das älteste die 95-jährige Frau Zlata Krkic.

Der Tag der weißen Bänder

Mirso Muhics kleine Welt war schön: Sein Vater hatte das Familienhaus selbst gebaut und war dann nach Deutschland gezogen, um dort zu arbeiten. Die Familie hatte vor kurzem das Zuckerfest gefeiert und Mirso, damals zehn Jahre alt, freute sich auf die Sommerferien. Doch die Idylle, die seine Kindheit prägte, sollte bald ein Ende finden.

Denn Mirso und seine Familie sind Bosniaken, also bosnische Muslime. Das sozialistische Jugoslawien, in dem Mirso geboren wurde, fiel Anfang der Neunzigerjahre auseinander. Denn derb damalige Präsident Serbiens, Slobodan Milosevic, unternahm rechtliche Schritte um aus Jugoslawien ein Großserbien zu machen – für serbische Nationalisten ein jahrhundertealter Traum. Für alle Nicht-Serben ein Albtraum, und die Gefahr vor Vernichtung. 

Fast Alle Republiken Jugoslawiens hielten Volksabstimmungen ab und überall ware sich die Abstimmenden einig: Wir können nicht in einem Staat leben, der vom Vielvölkerstaat zu Großserbien wird.

Im März 1992 erklärte auch Bosnien-Herzegowina seine Unabhängigkeit. Dann wurde der international anerkannte, unabhängige Staat vom heutigen Serbien angegriffen. Nicht nur Milosevic, auch der Präsident Kroatiens, Franjo Tudjman, versuchte durch einen Angriff auf Bosnien einen Teil des Landes für sich abzuspalten.

Von zwei Nachbarländern angegriffen, doch noch immer keine eigene Armee: Bosnien war in einer enorm schwierigen Situation. Schließlich wurde die multiethnische, multireligiöse Armee Bosniens formiert, um die Menschen zu schützen. Doch für zehntausende war es bereits zu spät.

Die serbisch-nationalistische Partei SDS in Bosnien verkündete die “Republika Srpska”, einen illegalen Parastaat innerhalb Bosniens. Um einen großserbischen Staat möglich zu machen, sollten Nicht-Serben aus jenen Teilen Bosniens verschwinden, in denen viele Serben lebten. Das Mittel dazu waren Massenvertreibungen, Konzentrationslager und Genozid, denen zumeist bosnische Muslime zum Opfer fielen.

Das Ende des Zusammenlebens wird im Radio verkündet

Bald überrollte der Genozid auch Mirsos Heimatstadt Prijedor: Die Jugoslawische Volksarmee griff Prijedor an und verhalf serbischen Nationalisten zur Macht. Das Ende des Zusammenlebens wurde über Radio Prijedor verkündet: “Alle Nicht-Serben müssen ihre Oberarme mit weißen Bändern und ihre Häuser mit weißen Fahnen markieren”, hieß es. Zu dieser Zeit lebten in Prijedor und Umgebung knapp 50.000 Bosniaken; sie machten die größte Gruppe aus. Hinzu kamen fast genauso viele Serben, sowie eine kroatische und andere Minderheiten.

Beim Spielen an einem See hörte Mirso zum ersten Mal Schüsse. “Nachdem sie unsere weiße Fahne im Garten gesehen hatten, versuchten Scharfschützen von den Fenstern meiner Schule aus, meine Mama zu erschießen”, erinnert er sich heute. “Sie konnte sich nur knapp ins Haus retten und wir beschlossen zu fliehen. Meine Schwester war 14. Aus Angst, dass sie unterwegs vergewaltigt werden könnte, mussten wir sie bei meiner Oma zurücklassen.”

Die fünfjährige Emira Mulalic aus Mirsos Dorf wurde mit ihrer Familie ins Konzentrationslager Trnopolje deportiert. Die Grundschule von Trnopolje wurde als Lager für Kinder benutzt. In den Konzentrationslagern um Prijedor waren mehr als 31.000 Menschen interniert. Viele wurden gefoltert oder ausgehungert, Hunderte getötet. Emira wurde neben ihrem Vater erschossen und verblutete in den Armen ihrer Mutter. Ihr Vater begrub sie neben der Moschee in Trnopolje.

Als er nach dem Krieg nach Pijedor zurückkam, um einen Grabstein zu errichten, war Emiras Leiche verschwunden. Erst Jahre später wurden ihre Knochen gefunden und im Juli 2016 beigesetzt – 24 Jahre nach ihrem Tod. Ihr Leben war kürzer als die Suche nach ihrer Leiche.

Hunderte werden noch immer vermisst

Nicht jedem gelang es, die Überreste getöteter Familienmitglieder zu finden. Hunderte Menschen aus Prijedor und Umgebung gelten noch heute als vermisst. Darunter auch das jüngste bekannte Opfer, der zwei Monate alte Velid Softic. Babyknochen sind dünn und besonders schwer zu finden.

In bis zu zehn Metern Tiefe wurden die Leichen und Schicksale von Tausenden von Menschen zusammengeworfen. In und um Prijedor herum gibt es mehr als 130 Massengräber. Und bis heute hoffen Überlebende darauf, wenigstens einen Knochen ihrer Angehörigen in einem der Gräber zu finden. Die meisten Leichen wurden auf mehrere Orte verteilt, um die Morde zu vertuschen. In Prijedor wurden insgesamt, in vier Jahren mehr als 5200 Menschen getötet oder gelten als vermisst.

Nachdem Mirso und seine Mutter aus ihrem Haus geflüchtet waren, verhungerten sie fast. Sie fassten deshalb einen Entschluss, den sie später bereuten: Um Mehl zu holen, kehrten sie heimlich in ihr Dorf zurück.

Dort lebten nur noch ein Nachbar und dessen gehörloser Sohn. “Kurz nachdem wir angekommen waren, kamen zwei Soldaten in die Ruine unseres Hauses”, sagt Mirso. “Sie fingen an, meine Mama und meine Tante zu schlagen. Mein sechsjähriger Bruder weinte; sie schlugen ihn mit Gewehren, bis er still war.” Er selbst habe nur stumm dagestanden, konnte nicht einmal weinen. Seiner Mutter, erinnert sich Mirso, schlugen sie alle Zähne aus.

Die Soldaten zerrten Mirsos Mutter und seine Tante aus dem Haus. Nach stundenlangem Warten waren sich die Brüder sicher, dass ihre Mutter und Tante tot seien. Sie beschlossen, zu zweit wieder zu fliehen. Als sie aus dem Haus traten, kamen die zwei Frauen blutüberströmt, mit zerrissener Kleidung, auf sie zu. Der Nachbar und sein Sohn lagen tot auf dem Bürgersteig. Sie flohen so schnell wie möglich. Ihr Dorf war jetzt leer.

Eure Gastarbeiter

Mirsos kleine Welt wurde zerstört – in Prijedor und den umliegenden Orten wurden 94 Prozent aller Nicht-Serben getötet oder vertrieben. Die meisten Opfer waren Bosniaken, aber auch viele bosnische Kroaten wurden getötet. Unter ihnen: der 14-Jährige Kresšo Pranjic. Dass Krešsos Vater Serbe war, konnte ihn nicht retten. Denn auch Kinder aus sogenannten Mischehen passten nicht in das Konzept eines “Großserbiens”. In Prijedor wurden die katholische Kirche und die Moschee am selben Tag in die Luft gesprengt.

In Deutschland, weniger als sieben Stunden Autofahrt von Prijedor entfernt, arbeitete Mirsos Vater. Flüchtlinge aus Prijedor erzählten ihm, dass seine Familie tot sei. Nach einem langen, qualvollen Jahr fand er heraus, dass die Kinderleichen, die man gefunden hatte, doch nicht die seiner Kinder waren.

Mirso lebte. Er wurde wieder mit seiner Schwester vereint, musste zuvor aber mit ansehen, wie die 14-Jährige einen Soldaten, der ihr ein Messer an den Hals hielt, um ihr Leben anflehte. An einem Ort, an dem zuvor mehr als 200 Menschen massakriert worden waren, wurden Mirso und seine Schwester in einen überfüllten Viehtransporter geworfen und deportiert.

Sie wurden unweit von Travnik ausgesetzt, einer von der bosnischen Armee kontrollierten Stadt knapp drei Autostunden südöstlich von Projedor. Dort trieben serbische Soldaten sie durch ein Minenfeld. Am Anfang mussten sie rennen, dann liefen sie immer langsamer. Um die Minen zu umgehen, trat jede Person in die Fußstapfen des Vordermanns. Schritt für Schritt brachten sie sich in Sicherheit.

Weiße Bänder im Kampf um die Erinnerung

Prijedor liegt heute in der Republika Srpska, die seit dem Kriegsende einen von zwei offiziellen Landesteilen Bosniens bildet: den serbisch kontrollierten. Die Stadtregierung lässt noch immer nicht zu, dass ein Denkmal für die Opfer errichtet wird. Seit Jahren bekämpft sie eine Initiative, wenigstens für die getöteten Kinder ein Denkmal zu bauen. Stattdessen steht dort, wo einst das Konzentrationslager Trnopolje war, ein Denkmal für serbische Soldaten.

Jedes Jahr demonstrieren Tausende Menschen in Prijedor und anderen Städten auf der ganzen Welt, in denen Vertriebene heute leben, für ein Denkmal. Sie gedenken der Opfer – und tragen dafür am Oberarm ein weißes Band. So auch bei einer Demo im Jahr 2012.

20 Jahre, nachdem sich die Nicht-Serben Prijedors mit weißen Bändern kenntlich machen mussten, zog eine Gruppe Überlebender und Aktivisten durch das Stadtzentrum. Unter ihnen waren auch junge bosnische Serben, die gegen die Leugnungspolitik der Stadtregierung ankämpfen. 

Ein kleines Wunder, denn laut studien sehen 87% der Serben den verurteilten Völkermörder und Terrorist Mladic nichtmal als Verbrecher, geschweige denn als Völkermörder. Die große Mehrheit der Serben in der Republika Srpska sowie in der Diaspora in Deutschland, leugnen oder verharmlosen den Genozid bis heute. 

Die Überlebenden in Prijedor, am 20. Tag der weißen Bänder, trugen Schulranzen mit den Namen von Emira, Kresšo, dem Baby Velid und anderen getöteten Kindern aus Prijedor. Sie legten die Schulranzen auf den Boden und formten damit ein Wort als Botschaft an die Stadtregierung: Genozid.

Diese mutige Erinnerung liegt 10 Jahre her. Lasst es uns dieses Jahr größer und sichtbarer machen!